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10 Sekunden Ärger sind ein Reflex. Danach entscheiden wir uns bewusst, uns zu ärgern.

Wenn der Angriff außen lauert – ein Exkurs im Thema Eskalation - Deeskalation

Erinnerst du dich an eine Situation, wo du den Eindruck hattest, dass sich jemand dir gegenüber "unangemessen" verhalten hat? Vielleicht hat derjenige aus deiner Sicht unsachliche oder unangemessene Kritik an dir geübt, dich beschimpft, dir mit harten Sanktionen gedroht. Oder du hast dich gedemütigt, beleidigt oder bloßgestellt gefühlt.  Vielleicht hat er oder sie auch einfach nur etwas gesagt, was dich, warum auch immer, verletzte.

Wie hast du reagiert? Hast du einen kühlen Kopf behalten und konntest das Problem lösen? Oder warst du sehr schnell zornig, verängstigt oder traurig? Hast du in der Situation vielleicht die Flucht ergriffen oder bist du zum Gegenangriff übergegangen? Wie ging es dir im Nachhinein? Konntest du die Situation schnell abhaken oder hat es dich noch lange beschäftigt?

Wenn du deine Reaktionen Revue passieren lässt, dann erkennst du darin vielleicht ein Muster: vielleicht reagierst du in vielen Konflikten gelassen, einfühlsam und lösungsorientiert oder aber du reagierst geknickt, mit Rückzug, wütend oder aufbrausend ...  Es ist nachgewiesen, dass wir in Konflikten und Stresssituationen oft sehr ähnlich reagieren.

Was passiert in uns, wenn wir scheinbar angegriffen werden?

Nicht jeder Angriff ist vom Sender bewusst als Angriff gemeint. Wahrscheinlich sind das eher die wenigsten. Von außen können wir das nicht ohnehin nicht beurteilen. Vielmehr hängt es immer von unserer eigenen Interpretation ab, ob wir eine Bemerkung als Angriff verstehen. Während sich eine Person selbst von harscher Kritik nicht angegriffen fühlt, kann eine andere Person selbst einen kleinen Hinweis als Angriff verstehen, auch wenn dieser voller Wertschätzung steckt. 

Für unsere Reaktion auf verbale Angriffe von außen gibt es eine 10-Sekunden-Regel, die auf Mentalcoach Steffen Kirchner zurückgeht. Sie lautet1:

„10 Sekunden Ärger sind ein Reflex. Danach entscheidet man sich bewusst, sich zu ärgern.“

Du kannst diese Regel auch vom Ärger auf andere unerwünschte Gefühle übertragen: Angst, Unsicherheit, Traurigkeit, Enttäuschung und viele mehr. Jeder Angriff von außen (oder was wir als Angriff interpretieren) löst eine spontane Gefühlsreaktion aus. Das ist quasi ein biologischer Reflex, der durch den scheinbaren Angriff getriggert wird, der aber auch schnell wieder verschwindet.

Stecken wir aber nach einer Kritik oder einem Angriff deutlich länger in diesen Emotionen fest, dann kommt ein Kreislauf in Gang, den der Hypnose-Coach James Tripp den „Hypnotic Loop“ nennt oder auch „Zirkel der subjektiven Wahrheit“:

The Hypnotic Loop by James Tripp

Lass uns für das Beispiel des Angriffs die Worte Imagination/Gedanken durch die Äußerung des Anderen ersetzen, die uns zu schaffen macht. Denn das ist ja auch ein Reiz, den wir wahrnehmen. In den ersten Sekunden reagieren wir mit spontanen Gefühlen und/oder körperlichen Signalen. Danach fangen wir an, das Gehörte mit ähnlichen Erfahrungen in der Vergangenheit abzugleichen. Diese Erfahrungen haben unsere inneren Überzeugungen beziehungsweise Glaubenssätze gebildet. Glaubenssätze, die wir über uns selbst und über unsere Mitmenschen haben. Jedes Mal, wenn uns als Kind jemand verspottet, beleidigt, ausgegrenzt, ignoriert oder an unseren Fähigkeiten gezweifelt hat, dann hat sich das verdammt schlecht angefühlt. Wenn wir ähnliche, schmerzhafte Erfahrungen oft gemacht haben, dann sind daraus Überzeugungen entstanden wie: Ich bin nicht gut; Niemand mag mich; Niemand hört mir zu. Der neue Reiz, hier die Kritik / der Angriff bestätigt uns dann in unseren Glaubenssätzen, wodurch sie noch mehr verfestigt werden. Dadurch werden auch die negativen Gefühle stärker und wahrscheinlich langanhaltender. Im schlimmsten Fall beschäftigt mich ein Angriff über Stunden, Tage, Wochen oder sogar mehrere Jahre. Ich erzähle mir die Geschichte immer und immer wieder.

Sobald dich ein Konflikt länger beschäftigt,  kannst du davon ausgehen, in diesem Kreislauf gefangen zu sein.

Kämpfen, starr werden, wegrennen – eine Lösung scheint unmöglich

Je stärker mich ein Angriff von außen emotional triggert, desto mehr werde ich von meinen Gefühlen beherrscht. Und um so weniger bin ich in der Lage, wirklich frei zu agieren. Meine Atmung wird flach, mein Oberkörper fühlt sich starr an, mein innerer Raum verengt sich und damit auch mein Handlungsspielraum. Es stehen mir weniger Ressourcen zur Verfügung, mit denen ich schwierige Gespräche meistern und Konflikte lösen kann.

Im Extremfall bin ich dann nur noch zur Flucht oder zum Gegenangriff in der Lage. Das passiert dann meist reflexartig. Diese Reaktionsmuster sind in Notsituationen dienlich oder waren es in der Vergangenheit einmal. Sie helfen mir aber als Erwachsener kaum noch, Konfliktsituationen zu lösen. Denn bei einer Flucht entziehe ich mich der Situation und löse sie nicht. Bei einem Gegenangriff kann sich der Konflikt verschärfen: Ich baue vielleicht kurzzeitig Wut ab, aber bereue es womöglich anschließend und leide unter negativen Konsequenzen.

Willst du noch mehr Insights zum Thema Deeskalation, und was passiert, wenn man sich getriggert fühlt? Dann schau dir gern dieses Video auf unserem Youtube Kanal an. Diese Montagmorgeninspiration aus unserem Newsletter gibt ein paar mehr Einblicke.

Wie schaffe ich mir den Raum, in dem eine Konfliktlösung möglich ist?

Deutlich wird es an dem Modell Mein Raum aus der Gewaltfreien Kommunikation (kurz GfK) nach Marshall B. Rosenberg2:

Mein Raum, GfK by Marshall B. Rosenberg

Wenn dich jemand angreift und ein Kreislauf aus alten Glaubenssätzen und negativen Gefühlen in Gang kommt, dann werden dein Raum und dein Handlungsspielraum immer enger und Emotionen gewinnen die Oberhand. Dadurch wird eine Konfliktlösung immer schwerer. Deshalb ist es wichtig, so früh wie möglich gegenzusteuern und den Raum offenzuhalten beziehungsweise ihn wieder zu erweitern. Was bedeuten die einzelnen Stufen und wie halte ich den Raum offen?

Stufe 1 – Empathisch sein
Hier hast du genügend Ressourcen zur Verfügung, um empathisch auf dein Gegenüber zu reagieren. Du hast die nötige Distanz, bist frei von Emotionen und kannst dadurch beobachten, wie sich dein Gegenüber verhält. Du hast die Wahl, ob Du einfühlsam reagieren möchtest, und du nimmst wahr, wie es deinem Gegenüber gerade geht. Du kannst das auch offen ansprechen: "Ich merke gerade, dass du wütend/verzweifelt/traurig bist." Oder du kannst hinterfragen..."Du, ich merke gerade, dass du laut wirst: Wie geht es dir gerade?/Was stört dich?/Was brauchst du gerade?/Wie kann ich dir helfen, um das Problem zu lösen?" Durch dein Einfühlungsvermögen, fühlt sich dein Gegenüber verstanden und wertgeschätzt. So bleibt für beide der Handlungsspielraum offen. Wir haben alle Ressourcen, den Konflikt für beide Seiten optimal zu lösen.

Stufe 2 – Sich ehrlich mitteilen mit Gewaltfreier Kommunikation
Hier bist du schon mittendrin. Aber du hast noch soviel Ressourcen, um dich - zum Beispiel durch den GFK 4 Schritt - mitzuteilen: Du äußerst deine Beobachtung und das Gefühl, das dadurch ausgelöst wird. Du sprichst deine Bedürfnisse an und kannst eine Bitte formulieren. Das kann in der Praxis wie folgt aussehen:

  • Beobachtung: „Du schreist mich gerade an.“
  • Gefühl: „Das verunsichert (oder ärgert) mich."
  • Bedürfnis: „Mir ist es wichtig, dass wir sachlich und respektvoll miteinander reden.“
  • Bitte: „Kannst du mir nochmal in Ruhe sagen, was dich stört?“ oder „Kannst du mir mal 5 Minuten geben, damit wir danach nochmal in Ruhe darüber reden können?“

Dich mitzuteilen ist Voraussetzung dafür, dass du auch wieder empathisch sein kannst, oder nach einer Lösung suchen kannst.

Dich interessiert Gewaltfreie Kommunikation? Auf Youtube findest du dazu noch viele weitere Inhalte. Zum Beispiel hier:

Zum Video

Oder du schaust dir einen unserer Blogs zum Thema GFK an:

Zum Blog

Stufe 3 – Selbsteinfühlung
Hier kannst du gerade noch wahrnehmen, dass es dir in der Situation schlecht geht und du gestresst bist. Vielleicht erkennst du noch, was deine Bedürfnisse sind und was du brauchst. Du bist aber schon so getriggert, dass es dir nicht mehr möglich ist, dich in dein Gegenüber hineinzuversetzen und empathisch zu sein.

Um den Raum offenzuhalten, braucht es ein Signal von dir wie: „Hey, mir geht es gerade ziemlich schlecht! Gib mir mal bitte ein paar Minuten, um wieder klarzukommen.“

Stufe 4 – Einfühlung bekommen
Hier beginnt der rote Bereich. Die Emotionen gewinnen schon so viel Macht, dass du dich und deine Bedürfnisse nicht mehr angemessen wahrnehmen kannst. Du kannst dann kaum noch für dich selbst sorgen, geschweige denn etwas zur Konfliktlösung beitragen. Dein Gedankenkarussell läuft auf Hochtouren, und du brauchst jetzt erst mal Empathie. Entweder holst du dir bei jemand anders oder dein Gegenüber reagiert und fragt dich: Okay, ich merke gerade, dass es dir richtig schlecht geht. / Weshalb weinst du? / Wie kann ich dir helfen?

Stufe 5 – Stopp
Der Handlungsspielraum wird vollkommen dicht. Und in der Realität ist das leider oft der Punkt, an dem wir erst (sichtbar) reagieren...Allerdings sind hier meist nur noch Angriff oder Flucht möglich. Wenn du das merkst, kannst du vielleicht noch durch ein Stopp! die Situation unterbrechen. Nur so kannst du vermeiden, dass du zum Gegenangriff übergehst...dass du selbst laut, ausfallend oder beleidigend wirst. Ein Stopp schützt euch beide davor, dass noch mehr Dinge kaputt gehen.

Je eher du wahrnimmst, was in dir passiert, desto kannst du reagieren und einfühlsam sein!

Je eher, du in einer Konfliktsituation deine eigenen Signale wahrnimmst und offen ansprichst, was dich bewegt, desto früher und erfolgreicher gelingt es dir, Konflikte zu lösen. Erinnere dich an die 10-Sekunden-Regel! Warte nicht erst ab, bis der Kreislauf aus negativen Gedanken, alten Schmerzen und inneren Glaubensätzen in Fahrt kommt. Und warte nicht, bis sich dein Raum völlig schließt und du nur noch wegrennen, toben oder schreien kannst.

Manchmal gibt es Tage oder Tageszeiten, an denen du emotional schon etwas vorbelastet bist. Dann ist der Raum schon von vornherein etwas enger und Empathie mit dir und deinem Gegenüber fallen dir schwerer. Dann darfst du erstmal für dich selbst sorgen, ja du musst es sogar. Vielleicht ist es nötig, dass du den „echten Raum“, in dem der „Angriff“ stattfindet, kurz verlässt und deinen „inneren Raum“ aufsuchst. So gewinnst du Abstand vom Auslöser negativer Gefühle. Du kannst dich fragen: Was passiert da gerade in mir? / Wie fühle ich mich? / Was brauche ich, um wieder Klarheit zu gewinnen? In einem anderen Raum – physisch wie imaginär – hast du auch die Möglichkeiten, deine Gefühle in angemessener Weise auszuleben: Hier kannst du vielleicht fluchen, ein paar Tränen vergießen, dich bewegen, dich anspannen und wieder lösen. Sich Raum zu nehmen ist keine Flucht im Sinne der Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Du gehst dem Konflikt nicht auf Dauer aus dem Weg, vermeidest ihn nicht und schiebst ihn nicht weg. Es heißt vielmehr: innehalten, reflektieren, klarwerden und Kraft tanken. Das schafft Ressourcen, um Konflikte für alle Beteiligten auf die beste Weise zu lösen.

Das kannst du als Training sehen: Wenn du regelmäßig übst, auf deine Gefühle und körperlichen Signale zu hören, dann lernst du auch, in zukünftigen Konfliktsituationen früher zu reagieren, weil du weißt, was dich triggert. Du wirst empathischer mit dir und deinem Gegenüber.

Und es passiert noch etwas anderes: Du beschäftigst dich mit dir selbst, mit deinen eigenen Themen und lernst dich dadurch besser kennen. Wenn du deine Gefühle bewusst erlebst, erfährst du auch, woher sie kommen und warum du so reagierst, wie du es tust. Du erfährst, welche Glaubenssätze, welches Mindset dich antreiben. Und du erkennst, ob dieses Mindset heute noch zutreffend ist, dir weiterhilft oder ob es Zeit wird, es durch neue Überzeugungen zu aktualisieren. So schaffst du wieder neue Ressourcen in dir, um Konflikte zu lösen.

Autor: Maximilian Rose

Max

Verwendete Literatur:

1Aphorismen.de – Zitat zum Thema: Ärger.
URL: https://www.aphorismen.de/zitat/189720, letzter Zugriff: 28.01.2021
2In Anlehnung an Annemarie + Peter (ohne Datum): Einfühlende Kommunikation. Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt. Durch bewusste Kommunikation persönliche Grenzen erweitern und Konflikte lösen.
URL: http://schmetterlingundregenbogen.de/Anne/E-Kom.pdf, letzter Zugriff: 28.01.2021

Bildnachweis: tumisu @ pixabay (Titelbild)

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